Es gibt Leute, die fragt man nach der Uhrzeit und hat nach 2 Minuten eine Disskusion darüber an der Backe, wer Recht hat und wer Unrecht. Wer schuldig ist und wer nicht. Diese Unterscheidung scheint vielen Menschen besonders wichtig zu sein. Deshalb gibt es hier einen Text (Auszüge) von Thomas Fischer / Bundesrichter in Karlsruhe zu diesem Thema.
Veröffentlicht in der Wochenzeitschrift ZEIT-Online am 26. Mai 2015.
Es gibt deutsche Tageszeitungen, die buchstäblich nichts tun – außer einem: Mehr oder minder wahllos zu sammeln, was in der Welt geschieht, und dazu penetrant und auf anspruchslosem Niveau festzustellen, wer daran "schuld" sei. Man könnte das Wesen solcher Publikationen als "Schuld-Maschinen" beschreiben: Sie produzieren Tag für Tag eine dumpfe, kleinrahmige, hochgradig personalisierte Vorstellung von Schuld, meistens von der moralischen Sorte, welcher der Strafantrag des Häme-Prangers sogleich folgt. Das ist nicht verboten, auch nicht richtig schlecht, bloß dumm. Die Redakteure, die solche Zeitungen machen, behaupten, dass es exakt dieses Maß an Dummheit sei, was die Masse ihrer Leser wünsche und intellektuell bewältigen könne. Ihr Tun nennen sie Weltdeutung.
Der Schimpanse als solcher ist frei von Schuld. Das gilt sogar, wenn wir ihn als unsereins verkleiden. Dann hüpft er in der Manege umher oder auf dem Bildschirm und imitiert Verhaltensweisen der Scham, der Betroffenheit oder Verantwortung, die seine Trainer ihm angewöhnt haben, damit menschliche Zuschauer die Illusion gewinnen, der Affe strebe nach Höherem, also nach der Schuld. Gelingt dies, zahlen die Menschen Geld dafür, das sehen zu dürfen.
Natürlich wissen wir, dass sich zu solchem Tun notfalls auch Hunde, Schweine und Delfine bewegen lassen. Auch Fury, ein Rappe mit edlem Charakter und feinem Humor,
hatte stets eine tiefe Empfindung für das Richtige und konnte Bösewichter schon am Geruch erkennen. Ihm folgten E.T., ein kleiner Außerirdischer, sowie androide Existenzen unterschiedlicher
Formgebung. Welcher Mann verliebte sich nicht in die wunderschöne, moral-flirrende Maschine Rachael in Blade Runner (Regie Ridley Scott, Buch Philip K. Dick)?
Der Schimpanse als solcher beißt oder droht hinweg, was ihm im Wege steht. Er ist in bedenklichem Maße egozentrisch. Kein Gefühl für Recht und Unrecht – er macht sich, soweit bekannt, auch praktisch keine Gedanken über Schuld und Verantwortung: Klaut dem andern die Banane, und freut sich darüber. Und, schlimmer: Der andere ärgert sich nur kurz, vergisst die Sache sofort und fordert keine Bestrafung wegen Diebstahls. Andererseits entwickeln die großen Primaten, insbesondere auch Gorillas, außerordentlich differenzierte Sozialstrukturen, die nicht allein auf Gewalt, sondern auf Allianzen, Gegenseitigkeiten und Austausch beruhen. Ob die Aufforderung zur Fellpflege etwa als normativer Anspruch wahrgenommen wird, als ein "Sollen", lässt sich schwer sagen, ist aber zu vermuten.
Es ist aus Sicht der Evolution ein winzig kleiner und doch außerordentlich bedeutender Schritt zwischen der Rangordnung eines Rudels, das denjenigen totbeißt, der sich zur Unzeit das beste Stück schnappt, und der "Moral" einer Horde, die dies als Ausdruck eines gemeinsamen Plans begreift. Dieser Schritt hat Millionen Jahre gedauert. Er hat den Charakter eines fließenden Übergangs und dauert weiter an. Vor spätestens 200.000 Jahren trat aus den Horden der Primaten des Waldes der Mensch in die Steppe. Und schon machte er sich und anderen Sorgen: Wer ist schuld, dass ich bin? Wer verantwortet, dass der Sturm bläst oder der Tiger kommt oder der Hunger die Kinder tötet? Am Anfang jedes Schöpfungsmythos, also des Austritts heraus aus dem "Paradies" der schuldfreien Zeitlosigkeit des Tier-Seins, hinein in das Menschsein unter der Herrschaft der Götter, steht eine Erzählung von der Schuld: ein Versagen vor göttlichen Normen.
Vermutlich haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihr Leben nicht in einem Langhaus in Papua-Neuguinea verbracht, oder in den Hütten indigener Kulturen in den Urwäldern Kolumbiens? Schauen Sie sich einen alten Heimatfilm aus dem Allgäu an, und versuchen Sie sich vorzustellen, wie es wohl 5.000 Jahre vor Ötzis Geburt dort war.
Die Schuld ist in der menschlichen Horde und im Langhaus allgegenwärtig und hat verschiedene Funktionen. Die zwei wichtigsten sind die Verbindung aller zu der unvorstellbaren Macht des Schicksals und die Verbindung aller untereinander. Die Ältesten, Weisen, sind Träger "traditionell legitimierter Herrschaft" (in der Diktion von Max Weber): Richtig ist, was alt ist, unvordenklich, immer schon.
Seitdem saßen die alten Männer da und murmelten das Immergleiche: Dass alles bleiben müsse, wie es war; dass schuldig sei und ein Fremder, wer abweicht. Geringste, für uns kaum bemerkbar kleine Abweichungen von den bis ins Detail geregelten Normen des Aussehens, Verhaltens, Sprechens führten dazu, dass eine Person aus dem sicheren Bereich des "Wir" in den furchtbaren Bereich des "Fremden" fiel – mit drastischen Folgen. Für die Verbindung zu den Kräften des Schicksals waren andere zuständig: Priester, Wahnsinnige, Charismaträger, Kriegshäuptlinge. Immer ging es um Schuld. Um sie abzutragen, wurden zunächst Menschen geopfert, später wertvollste Güter. In den religiösen Riten lebt all dies auch bei uns bis heute fort.
Warum ist das so? Wie Sie wissen, gibt es hierzu viele Meinungen. Viele glauben, die Schuld sei ein aus dem inneren "Wesen" des Menschen kommendes Verhältnis zu höheren Wesen ("Erbsünde"). Dahinter steht eine überaus komplizierte Konstruktion des (menschlichen) Erdenlebens als Durchgangszeit und des individuellen Bewusstseins als Verantwortung. Denn nicht Gott (oder die Götter) hat die Schuld in die Welt (des Paradieses) getragen – auch wenn er sie doch offenbar "erfunden" hat, um die Seele des Menschen ein wenig zu beschweren und an allzu hohen Flügen zu hindern. Sondern die Schuld ist – von wo auch immer – in den Menschen hineingekrochen und zerfrisst ihn und führt, wenn sie nicht abgegolten wird, zu schrecklichen Strafen.
Was also ist Schuld? Die Rechtswissenschaft ist schnell bei der Hand mit Antworten: Verantwortlichkeit für (negative) Erfolge, Zuschreibung von Ursächlichkeit, Vorwerfbarkeit schädlicher Einstellungen und Handlungen. All diese Beschreibungen sind zweifellos richtig, greifen aber erst auf einer Ebene ein, auf der es um "Zumessung" von Schuld geht. Ihre Grundlage liegt viel tiefer in der Natur des Menschen.
Keine Schuld ohne Reflexion. Keine Reflexion ohne Spiegel. Der Spiegel, in welchem der Mensch sich sieht, ist nicht zuerst der andere Mensch (oder gar ein Gott), sondern die Differenz seiner Gehirnhälften. Die Fähigkeit, sich selbst zu deuten, eigene Gedankeninhalte und Haltungen zu Sinneseindrücken zu reflektieren, ist bei Tieren zwar in ersten Ansätzen vorhanden, aber, in Verbindung mit Sprache, eine spezifisch menschliche Eigenschaft. Sie ist eine Funktion der Entwicklung von Brückenstrukturen unseres Gehirns.
Insoweit haben die Erzählungen der Bibel zweifellos recht: Das Wesen, das in der Nacht allein unter dem Himmel sitzt und denkt: Wer bin ich?, ist ein Mensch, der dem Paradies der Natur entkommen ist und zugleich aus ihm hinausgeschleudert wurde. Und gleich darauf fragt jemand: Wo ist Dein Bruder? Was hast Du mit ihm gemacht?
Dies ist das Reich der Religion und der Metaphysik. Es ist interessant, hält aber für unsere Zwecke nur wenig Greifbares bereit. Wichtiger sind die Konstruktion und
die Funktion von Schuld in der Gesellschaft.
Denn der Mensch war zu keinem Zeitpunkt ein Einzelner. Er war von Anfang an und stets Gemeinschaft, Horde, Clan, Stamm. Seine bedrückende Wehrlosigkeit gegenüber der feindlichen Umwelt, seine körperliche Schwächlichkeit in der Natur, seine evidente Unterlegenheit gegenüber großen Raubtieren konnte nur kompensiert werden durch enge Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. Die setzen gemeinsame Planung und differenzierte Kommunikation voraus. Deren Voraussetzung wiederum ist die Fähigkeit zur Empathie, also zum inneren Verständnis der Motive und Absichten des jeweils anderen, zum "Hineinversetzen". Diese Fähigkeit zur Empathie ist bei Menschen außerordentlich hoch ausgebildet. Sie ist zugleich das hervorstechendste Werkzeug unserer sozialen Orientierung: Praktisch ununterbrochen sind wir damit beschäftigt, unsere (menschliche) Umgebung nach Signalen des "Sinns", des Motivs, des Einfühlens zu durchsuchen. Die Beobachtung aller anderen im Hinblick auf ihre inneren Einstellungen, Absichten und dergleichen beschäftigt uns Menschen ohne Unterlass und ist das wichtigste Mittel, eigenes Handeln einzupassen. Nur so kann Gewaltfreiheit und Zusammenarbeit erreicht werden.
Die Funktion von "Schuld" ist also zunächst eine sozial absolut grundlegende: Sie ist die Widerspiegelung der Ergebnisse empathischer Wahrnehmungsfähigkeit und der Selbstreflexion vor normativen Anforderungen.
Teile Dein Essen! Töte nicht Deinen Bruder! Beschütze die Gruppe! Nimm nicht heimlich die besten Stücke! Sieh aus wie wir! Zeige Dich freundlich, wenn Du beschenkt wirst! Gib Gegengeschenke! – Unendlich ist die Zahl der Erwartungen, die geäußert werden, und der Möglichkeiten, sie zu enttäuschen. Permanente Beobachtung ist erforderlich. Wer versagt, hat "Schuld". Schuld kann also als eine Art von normativ-psychologischer "Währung" verstanden werden, mithilfe derer in menschlichen Gesellschaften permanent das gegenseitige Verhalten abgeglichen und gesteuert wird.
Die Fortführung des Textes finden sie HIER